Waffen der Wurster und ihrer Gegner
Wenn du heute an der Wurster Küste entlanggehst, fällt es schwer, sich vorzustellen, dass hier einst Kämpfe tobten.
Wo heute Schafe auf den Deichen weiden, standen im 15. und 16. Jahrhundert bewaffnete Marschbauern den Truppen von Herzögen und Erzbischöfen gegenüber.
Sie trugen keine glänzenden Rüstungen, keine Lanzen aus der Waffenkammer eines Schlosses – ihre Waffen kamen aus der Werkstatt, vom Acker oder aus der Schmiede hinter dem Deich.
Und doch hielten sie stand.
Mit Hellebarden, Spießen, Armbrüsten und bald auch Hakenbüchsen verteidigten die Wurster ihre Freiheit – gegen Gegner, die ihnen technisch weit überlegen waren.
Dieser Artikel erzählt, womit sie kämpften, wie sie kämpften – und warum ihre Waffen mehr über den Charakter der Menschen verraten als über ihre Kriegskunst.
Krieg in der Marsch – eine eigene Welt
Land, das sich wehrt
Das Land Wursten war keine Ritterherrschaft.
Hier gab es keine Burgen, keine Hofstaaten, keine Berufssoldaten.
Die Verteidigung lag in den Händen der Bewohner selbst – freie Bauern, die ihr Land gegen jede Bedrohung verteidigten, ob Sturmflut oder Heer.
Ihr Kriegsplatz war die Marsch – offenes, flaches Land, durchzogen von Gräben, Deichen und Wegen.
Schwere Reiter kamen hier kaum voran.
Wer sich auskannte, hatte einen Vorteil: Die Wurster nutzten ihre Heimat als Waffe.
„Wi wussen, wo dat Land weich un wo dat fast is.“
(„Wir wussten, wo das Land weich und wo es fest ist.“)
Darum konnte eine Handvoll Bauern ein Söldnerheer zum Stehen bringen – wenn das Wetter, der Boden und der Mut auf ihrer Seite waren.

Die Hellebarde – Bauernwaffe mit Biss
Ursprung und Bauweise
Die Hellebarde ist die klassische Waffe der spätmittelalterlichen Fußtruppen.
Ihr Name kommt aus dem Althochdeutschen: halm (Stiel) und barte (Axt).
Sie war also eine Axt am langen Stiel, oft kombiniert mit einem Spieß und einem Haken.
Etwa zwei Meter lang, mit einer Stahlklinge, die schneiden, stoßen und ziehen konnte.
Für Bauern war sie ideal: Sie brauchte keine teure Ausbildung, ließ sich aus landwirtschaftlichen Geräten ableiten – und war in der engen Marsch ebenso wirkungsvoll wie auf offenem Feld.
Symbol und Werkzeug zugleich
Die Hellebarde war mehr als eine Waffe.
Sie war auch Statussymbol der Wurster Freiheit.
In Abbildungen aus dem 15. Jahrhundert sieht man die Männer des Landes mit dieser Waffe als Zeichen ihrer Wehrhaftigkeit – sogar im Wappen von Mulsum ist sie bis heute erhalten.
Wenn die Landsgemeinde tagte, trugen die gewählten Wächter Hellebarden – nicht als Drohung, sondern als Zeichen, dass Recht und Schutz in derselben Hand lagen.
Der Spieß – einfach, tödlich, gemeinschaftlich
Neben der Hellebarde war der Spieß (oder Lanze, Piecke) die älteste Waffe der Wurster.
Ein langer Holzstab, vorn mit einer Eisen- oder Stahlspitze versehen – schlicht, billig und in der Gruppe unschlagbar.
Spieße waren die Grundlage der „Bauernhaufen“, jener engen Formationen, die feindliche Reiter abwehrten.
Wer mit dem Spieß kämpfte, musste auf den Nachbarn vertrauen.
Er war kein Einzelkämpfer, sondern Teil einer Wand aus Holz und Eisen.
Das passte gut zum Gemeinschaftssinn der Marschbauern:
„Een allein is nix, man tosam sünd wi stark.“
So entstand aus Not und Zusammenhalt eine Verteidigungsform, die in den Marschkämpfen des 15. Jahrhunderts erstaunlich erfolgreich war.
Armbrust und Bogen – die Übergangswaffen
Bevor Feuerwaffen verbreitet waren, setzten die Wurster auf Armbrüste und Langbögen.
Sie eigneten sich für die Deichlinien und Gräben, von denen aus man auf Distanz schießen konnte.
In Rechnungsbüchern des Erzstifts Bremen tauchen immer wieder Hinweise auf „Wurster Schützen“ auf – Bauern, die im Umgang mit Armbrust und Pfeil geübt waren.
Ein Treffer aus einer guten Armbrust konnte eine Rüstung durchdringen.
Und Pfeile oder Bolzen ließen sich leicht aus lokalen Materialien herstellen – Holz, Eisen, Gänsefedern.
Das machte sie zu idealen Waffen für ein Land, das keine Rüstungsindustrie kannte, aber handwerklich stark war.

Die Hakenbüchse – das erste Schussfeuer
Technische Revolution
Um 1470 taucht im Norden die Hakenbüchse auf – eine frühe Feuerwaffe, Vorläufer des Gewehrs.
Ein schweres Rohr aus Eisen, auf einen Holzstock montiert, abgefeuert über eine Lunte.
Der „Haken“ an der Unterseite diente dazu, die Rückstoßkraft an eine Mauer oder Deichkante abzuleiten.
Für die Wurster war sie ein Geschenk und eine Herausforderung zugleich.
Sie brauchte Schwarzpulver, Zündschnur, Kugeln – alles Dinge, die man nicht mal eben auf dem Hof herstellte.
Aber sie hatte eine psychologische Wirkung: Lärm, Rauch und Feuer erschreckten auch gut gerüstete Gegner.
In der Praxis
Die Hakenbüchse wurde meist von den jüngeren Männern getragen.
Ein Schütze, ein Ladesknecht, manchmal ein zweiter Träger.
Auf den Deichen rund um Wremen und Dorum fand man in den 1970er-Jahren sogar Reste von Bleikugeln und Luntenspitzen – Belege, dass hier tatsächlich mit Feuerwaffen gekämpft wurde.
Trotzdem blieb die Hakenbüchse ungenau und gefährlich – oft mehr für den Schützen als für den Feind.
Viele Wurster vertrauten deshalb weiter auf Hellebarde und Spieß.
Rüstung und Schutz – der Alltag im Kampf
Die meisten Wurster kämpften ohne volle Rüstung.
Ein dicker Lederkittel, vielleicht ein Brustharnisch aus Eisen, ein Helm – mehr war selten.
Metall war teuer, und in der Marsch schwer zu tragen.
Dafür kannten sie das Gelände, wussten, wo sie Deckung fanden – hinter einem Deich, einer Warft, einem Sielhaus.
Die Söldner des Erzbischofs dagegen trugen Kettenhemden, Brustpanzer, Helme.
Ihre Pferde sanken oft im feuchten Boden ein – ein Vorteil für die Wurster, die barfuß oder in Holzschuhen kämpften.
Der Krieg war hier ein Kampf der Beweglichkeit gegen die Masse, der Ortskenntnis gegen die Disziplin.
Waffen als Zeichen – zwischen Gericht und Verteidigung
In Friedenszeiten hingen die Hellebarden nicht ungenutzt an der Wand.
Sie waren auch Amtszeichen: Der Wächter beim Gericht, der Dorfälteste, der Vertreter der Landsgemeinde trug sie als Zeichen seiner Verantwortung.
Ein geschnitzter Stab mit Eisenklinge stand für Autorität – ähnlich wie später ein Amtsstab.
In alten Beschreibungen des „Landgerichts zu Wremen“ heißt es, dass die Ratgeber mit Hellebarden erschienen, „zum Zeichen des Landrechts“.
So wurde die Waffe zum Symbol von Recht und Ordnung – ein Erbstück aus Zeiten, in denen der Unterschied zwischen Schutz und Gerichtsbarkeit fließend war.

Die Gegner – Söldner, Ritter und Schützen
Sachsen-Lauenburg (1484, 1499)
Die Herzöge von Sachsen-Lauenburg schickten Söldnertruppen – meist deutsche und böhmische Fußknechte.
Sie trugen Piken, Schwert und Dolch, manche frühe Arkebusen.
Ihre Stärke war Disziplin, ihre Schwäche: Unkenntnis des Geländes.
1484 wurden sie bei Alsum vernichtend geschlagen.
1499 kam die „Schwarze Garde“, ein gefürchtetes Söldnerheer von über 4.000 Mann – doch auch sie scheiterte.
Der Legende nach brachen ihre Reihen auf dem Eis des Wremer Tiefs, weil die Wurster sie dorthin gelockt hatten.
Die einfache Waffe gewann gegen die teure.
Erzstift Bremen (1517–1524)
Ganz anders die Kriege gegen den Erzbischof Christoph von Bremen.
Seine Truppen nutzten Kanonen, Musketen, schwere Belagerungsgeräte.
Die Wurster standen erstmals einem Heer gegenüber, das Feuerkraft mitbrachte.
1517 am Wremer Siel und 1524 bei Mulsum richteten diese Waffen furchtbare Verwüstung an.
Das Schießpulver entschied – nicht mehr der Mut allein.
Frauen im Kampf
Chronisten berichten, dass beim Gefecht am Wremer Siel 1517 auch Frauen mitkämpften.
Sie trugen Spieße, Dreschflegel, Sensen – was immer zur Hand war.
Die berühmteste unter ihnen war Tjede Pekes, die Fahnenträgerin der Wurster.
Ob sie wirklich existierte oder zur Legende wurde, ist unklar.
Doch ihre Figur steht symbolisch für den Mut der Bevölkerung, die ihre Freiheit nicht kampflos aufgab.
Kanonen und Pulver – die neue Bedrohung
Mit dem Einzug der Artillerie veränderte sich die Kriegführung dramatisch.
Kanonen zerstörten in Stunden, was Jahrhunderte gehalten hatte.
Bei der Belagerung der Wurster 1524 kamen Feldgeschütze zum Einsatz, die ganze Höfe in Brand schossen.
Die Marsch, einst Schutz durch ihre Nässe, wurde nun zur Falle: Wer fliehen wollte, blieb im Schlamm stecken.
Für die Wurster war das das Ende einer Epoche.
Ihre alten Waffen – Hellebarde, Spieß, Armbrust – waren gegen Pulver und Eisen machtlos.
Die Freiheit, die sie 300 Jahre lang verteidigt hatten, ging in Rauch auf.
Erinnerungskultur – Waffen als Erzählung
Heute sind kaum Originalwaffen der Wurster erhalten.
Doch in Museen, Kirchen und auf Gedenksteinen lebt ihr Bild weiter.
- In Wremen zeigt ein Gedenkrelief eine Hellebarde – als Symbol der Wehrhaftigkeit.
- In Mulsum taucht sie im Gemeindewappen auf.
- Im Museum Land Wursten hängen Nachbildungen der Waffen aus Holz und Eisen – schlicht, aber eindrucksvoll.
Sie sind keine Kriegsbeute, sondern Erinnerungsstücke an Selbstbehauptung.
Das Land Wursten war nie eroberungslustig – es kämpfte nur, wenn es musste.
Technikgeschichte zum Anfassen
Wer sich heute für historische Waffen interessiert, kann im Land Wursten noch vieles entdecken:
- Freilichtmuseum Dorum: Nachbauten mittelalterlicher Werkzeuge und Waffen, erklärt im Kontext des Küstenschutzes.
- Kirche Wremen: Gedenktafel mit Hellebarde-Symbolik; erzählt vom Kampf am Wremer Siel.
- Mulsum (Gemeindewappen): Zwei gekreuzte Hellebarden auf rotem Grund – ein deutliches Zeichen, wie tief dieses Motiv in der regionalen Identität verankert ist.
Diese Objekte sind keine Kriegsverherrlichung, sondern Erinnerung daran, dass Freiheit in der Marsch nie selbstverständlich war.
Was die Waffen über die Menschen sagen
Jede Waffe spiegelt ihren Träger.
Die Wurster Hellebarde steht für Klarheit und Direktheit – kein Hinterhalt, kein Prunk.
Die Hakenbüchse zeigt Erfindungsgeist und Anpassung, den Willen, mitzuhalten.
Und der Spieß steht für Gemeinschaft – Stärke durch Zusammenhalt.
Ihre Gegner kamen mit Rüstung, Sold und Kanonen.
Die Wurster kamen mit Mut, Werkzeug und Landkenntnis.
Sie verloren den letzten Krieg, aber sie gewannen etwas anderes: das Bild einer Gemeinschaft, die sich selbst verteidigte, solange sie konnte.

FAQ – Fragen, die du dir vielleicht stellst
Was war die Hellebarde?
Eine Kombinationswaffe aus Axt, Haken und Spieß – ideal für Fußtruppen im Nahkampf.
Wie funktionierte die Hakenbüchse?
Ein frühes Gewehr mit Zündschnur, das über einen Metallhaken abgestützt wurde.
Waren die Wurster wirklich bewaffnete Bauern?
Ja. Sie bildeten Milizen aus den Kirchspielen, jeder Hof stellte Männer und Waffen.
Gab es Rüstungen im Land Wursten?
Nur vereinzelt – meist Helme oder Brustplatten, keine Vollrüstung.
Wo kann man solche Waffen heute sehen?
Im Museum Land Wursten, im Historischen Museum Bremerhaven und auf Abbildungen regionaler Wappen.
Was Du hier lernen konntest
Die Waffen der Wurster waren keine Instrumente des Eroberns, sondern Werkzeuge des Überlebens.
Sie entstanden aus dem, was da war: Holz, Eisen, Mut.
In ihren Händen wurden Spieße, Hellebarden und Hakenbüchsen zu Symbolen einer Haltung – dem Willen, frei zu bleiben, auch wenn die Welt sich änderte.
Wenn du das nächste Mal über den Deich gehst und den Wind spürst, denk daran:
Hier stand einst ein Bauer mit einer Hellebarde in der Hand, nicht aus Kriegslust, sondern weil er wusste, dass Freiheit verteidigt werden muss – selbst mit einfachsten Mitteln.













