Wasser rein, Wasser raus: Geschichte einer Küstentechnik
Wenn du am Deich bei Wremen stehst und das dumpfe Schlagen der Sielklappen hörst, klingt es unscheinbar – ein dumpfer Ton, der kurz verhallt. Doch in diesem Klang steckt Geschichte. Die Sielorte des Landes Wursten erzählen von Jahrhunderten des Ringens zwischen Mensch und Meer. Von Bohlen und Backsteinen, von Windrädern, Dampfpumpen und Computern. Und von einer Landschaft, die ohne diese Tore gar nicht existieren würde.
Heute sind Orte wie Dorum-Neufeld, Wremen, Cappel-Neufeld oder Dorumersiel vertraute Namen für Urlauber. Sie stehen für Häfen, Wattwanderungen, Krabbenkutter und Deichspaziergänge. Doch hinter der friedlichen Kulisse steckt ein Stück Technikgeschichte – die Geschichte, wie das Land Wursten gelernt hat, mit dem Wasser zu leben.
Was ein Siel wirklich ist
Ein Siel ist, nüchtern gesagt, ein Durchlass im Deich. Es lässt das Binnenwasser bei Ebbe ins Watt abfließen und schließt sich bei Flut, damit kein Meerwasser eindringt. Einfach klingt das, doch es ist eine der genialsten Erfindungen der Küstentechnik.
Ohne Siele wäre das Marschland hinter den Deichen unbewohnbar. Regen und Grundwasser könnten nicht abfließen, Gräben würden überlaufen, Felder versumpfen. Erst die Siele machten die Marsch nutzbar – sie sind die unsichtbare Lebensader des Landes Wursten.
Die ersten einfachen Holzsiele entstanden vermutlich schon im 13. Jahrhundert, als sich die ersten Deichverbände bildeten. Damals legten Bauern hölzerne Bohlen in den Deich, setzten Klapptore davor und vertrauten darauf, dass das Wasser bei Ebbe von allein ablief. Jedes Jahrhundert brachte neue Materialien, bessere Formen, stabilere Konstruktionen.

Die Sielorte Land Wursten – wo Land und Meer sich begegnen
Dorum-Neufeld – ein Hafen auf Wanderschaft
Kaum ein Ort zeigt den Wandel so deutlich wie Dorum-Neufeld. Das erste Dorumersiel lag weiter im Binnenland, hinter älteren Deichlinien. Doch mit jeder neuen Eindeichung rückte die Küstenlinie weiter nach außen. Das heutige Siel und der Hafen entstanden auf neu gewonnenem Land – eine Folge von Jahrhunderten der Landverlagerung.
Zwischen den alten und neuen Deichen liegen Schichten aus Klei, Muscheln und Torf – Zeugen des Kampfes um jeden Meter. Der heutige Hafen, in dem Krabbenkutter und Segelboote liegen, ist das Ergebnis dieser langen Entwicklung.
Wremen – das Herz der Entwässerung
In Wremen lässt sich die Technikgeschichte der Siele besonders anschaulich erleben. Schon im Mittelalter leitete der sogenannte Wremer Tief-Zug das Wasser aus der Marsch ab. Später kam ein Schöpfwerk hinzu, das bis heute funktioniert.
Wenn du am Hafen stehst, siehst du hinter dem Schöpfwerk eine Pumpe, die bei Sturmflut oder Dauerregen anspringt. Sie hebt das Wasser über den Deich, wenn die Nordsee zu hoch steht.
Die Wremer sagen: „Wenn dat Siel dicht is, geiht nix mehr.“ Dieser Satz fasst die Bedeutung treffend zusammen – ohne das Siel steht alles still.
Cappel-Neufeld – wo die Technik modern wurde
Cappel-Neufeld wurde im 19. Jahrhundert zu einem Symbol des Fortschritts. Hier entstand eines der ersten Pumpwerke mit Dampfantrieb, später folgten Diesel- und Elektropumpen. Der Ort liegt auf einem ehemaligen Neufeld, also auf Land, das durch systematische Eindeichung gewonnen wurde. Kaum irgendwo wird deutlicher, wie eng Sielbau, Landgewinnung und Küstenschutz zusammenhängen.

Vom Holzsiel zum Schöpfwerk – die Technik im Wandel
Das Prinzip ist einfach:
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Bei Ebbe öffnen sich die Tore, das Binnenwasser läuft ab.
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Bei Flut drücken die Wassermassen dagegen, und die Tore schließen automatisch.
Doch die Umsetzung war nie simpel. Der Wandel der Bauformen spiegelt den technischen Fortschritt:
| Epoche | Bauweise | Besonderheiten |
|---|---|---|
| 13.–16. Jh. | Holzsiele | einfache Bohlenkästen, von Hand geöffnet |
| 17.–18. Jh. | Steinsiele | Gewölbekästen aus Ziegel und Granit, stabiler, aber aufwendig |
| 19. Jh. | Eisensiele | erstmals industriell gefertigte Klapptore |
| 20. Jh. | Pumpwerke | motorisierte Entwässerung, unabhängig von Ebbe und Flut |
Heute misst ein Netzwerk aus Sensoren Wasserstand und Pegel. Wenn das natürliche Gefälle nicht reicht, starten Pumpen automatisch.
Doch trotz aller Technik bleibt das alte Wissen wichtig: das Gespür für Windrichtung, Gezeiten, Regen – die Erfahrung der Menschen, die an den Sielen leben.

Leben mit dem Siel
Ein Siel war immer mehr als ein technisches Bauwerk. Es war Treffpunkt, Arbeitsplatz und Schicksalsort. Hier kamen Bauern zusammen, um über Deiche zu beraten, hier legten Boote ab, hier wurden Netze geflickt.
Die Sielwärter waren zentrale Figuren im Dorfleben. Sie lebten meist direkt am Deich, beobachteten den Wasserstand, kontrollierten Schotten und meldeten Schäden. Ein verstopftes Siel konnte ganze Ernten vernichten.
Ihr Alltag war geprägt von Verantwortung – und von der Erkenntnis, dass das Meer keinen Feierabend kennt.
Ein alter Spruch aus Dorum fasst es so:
„Dei Water hätt keen Ruh.“
Wenn Technik Geschichte schreibt
Jede Sturmflut brachte neue Erkenntnisse.
Nach der verheerenden Flut von 1717 bauten die Wurster viele Siele neu, diesmal mit Steinmauerwerk. Die Flut von 1962 leitete den Übergang zur modernen Pumpentechnik ein.
Heute stammen viele Anlagen aus dieser Zeit – robust, motorisiert, aus Stahlbeton und mit Fernsteuerung.
Doch die alten Sielzüge sind nicht vergessen. Wer durch die Marsch spaziert, entdeckt sie noch: gemauerte Bögen, verrostete Eisenklappen, mit Schlick gefüllte Gräben. Sie sind archäologische Fenster in die Technikgeschichte des Landes Wursten.
Häfen und Sielorte im Wandel
Aus Entwässerungsstellen wurden Häfen, aus Arbeitshäfen Ausflugsziele. Die Sielorte Land Wursten erzählen diesen Wandel besonders eindrucksvoll.
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Wremen: Vom Fischerdorf zum lebendigen Kutterhafen. Noch heute fährt eine kleine Krabbenflotte hinaus, daneben liegen Segelboote und Ausflugsschiffe.
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Dorum-Neufeld: Vom reinen Küstenschutzstandort zum touristischen Zentrum mit Nationalpark-Haus, Badelagune und Museumshafen.
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Cappel-Neufeld: Kaum noch Berufs-Fischerei, dafür Wattwanderungen und Seehundfahrten – ein Ort, der Naturerlebnis und Erinnerung verbindet.
Mit der Gründung des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer (1986) bekamen die Häfen eine neue Rolle: als Tore zur Natur, Lernorte und Ausgangspunkte für Umweltbildung. Die Verbindung zwischen Technik und Landschaft wurde wieder sichtbar.
Deichbau, Landgewinn und Sturmfluten
Ohne Deiche kein Siel – und ohne Siel kein bewohnbares Land.
Die Sielorte Land Wursten liegen in einer Region, die über Jahrhunderte ständig neu geformt wurde. Nach jeder Sturmflut wurden Deiche verbessert, nach jeder Landgewinnung neue Siele gebaut.
Der ständige Wechsel von Angriff und Verteidigung prägte die Landschaft.
Hinter jedem neuen Deich blieb ein altes Siel zurück – stillgelegt, verschüttet, aber oft noch im Boden erhalten. Manche dieser alten Sielzüge lassen sich mit geübtem Blick erkennen: eine leichte Senke, eine Linie aus Schilf, ein alter Grabenlauf.
Ihre Namen verraten viel: „Altes Siel“, „Neues Siel“, „Sielstraße“ – kleine Hinweise auf große Geschichte.
Der Sprung ins Maschinenzeitalter
Im 20. Jahrhundert änderte sich alles. Elektrische Pumpen, Stahlbeton und Kontrollräume machten die Entwässerung unabhängig von Ebbe und Flut.
In den 1960er- und 70er-Jahren entstanden entlang der Wurster Küste moderne Schöpfwerke – teils mit automatischer Steuerung.
Die klassischen Sielwärterhäuser blieben bestehen, doch ihre Bewohner arbeiteten nun mit Funk, Messgeräten und später Computern.
Heute überwacht der NLWKN (Niedersächsischer Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz) die Anlagen aus der Ferne.
Trotzdem bleibt das alte Wissen wertvoll. Es gibt Situationen, in denen kein Computer die Erfahrung eines Sielwärters ersetzt.
Sielorte als Erinnerungsorte
In den Sielorten Land Wursten ist Geschichte sichtbar.
In Wremen steht der alte Ziegelsielzug mit seinen Eisenklappen noch immer. In Dorum-Neufeld erinnert eine Ausstellung im Nationalpark-Haus an die frühen Zeiten des Küstenschutzes.
Im Museum Land Wursten in Dorum erfährst du, wie aus einfachen Holzbohlen komplexe Pumpensysteme wurden.
Viele dieser Orte haben Gedenktafeln, alte Schleusentore liegen als Mahnmal auf dem Kai.
Sie zeigen: Küstenschutz ist kein abgeschlossenes Kapitel, sondern eine dauernde Aufgabe.
Das Meer als Partner – nicht als Gegner
Die Geschichte der Sielorte Land Wursten ist auch eine Geschichte der Haltung.
Früher hieß es: „Wir kämpfen gegen die See.“
Heute sagen die Menschen: „Wir leben mit ihr.“
Diese Einstellung prägt moderne Küstenschutzkonzepte: sanfte Deiche, ökologische Ausgleichsflächen, Rückzugsräume für Watt und Vögel.
Der Mensch lenkt das Wasser – aber er zwingt es nicht mehr.
Was du heute sehen kannst
Wenn du durch das Land Wursten fährst, kannst du viele Spuren dieser Entwicklung entdecken:
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Wremen: alter und neuer Sielzug, Schöpfwerk, Gedenktafeln, Krabbenkutterhafen.
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Dorum-Neufeld: Hafentor, moderne Sielklappen, Ausstellung zur Küstentechnik im Nationalpark-Haus.
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Cappel-Neufeld: Schöpfwerk mit restaurierten Pumpen, Startpunkt für Wattwanderungen.
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Padingbüttel: alte Gräben und Vorfluter im Ortskern, Reste historischer Sielzüge.
Jeder Ort erzählt dasselbe Thema – das ewige Spiel von Land und Meer.
Fragen, die du dir vielleicht stellst
Warum heißen die Orte „-siel“?
Weil dort ein Siel – also ein Entwässerungstor durch den Deich – liegt. Ohne Siel kein „Sielort“.
Wie alt sind die ältesten Siele im Land Wursten?
Vermutlich aus dem 13. Jahrhundert; erste Nachweise liegen zwischen Dorum und Wremen.
Wie funktioniert ein Siel heute?
Die Tore öffnen bei Ebbe, schließen bei Flut. Wenn das Wasser nicht schnell genug abfließt, übernehmen Pumpen die Arbeit.
Was passiert bei Sturmflut?
Dann bleibt das Siel geschlossen, und das Wasser wird über Pumpen hinausgedrückt – sicher, aber energieaufwendig.
Warum sind die alten Sielorte heute touristisch wichtig?
Weil sie Technik, Kultur und Landschaftsgeschichte verbinden. Hier kann man sehen, wie das Leben an der Nordsee wirklich funktioniert.
Wasser rein, Wasser raus, und die Geschichte dazwischen
Die Sielorte Land Wursten sind kleine technische Wunderwerke und große Kulturdenkmäler zugleich.
Jedes Tor, jeder Graben erzählt vom Zusammenspiel zwischen Mensch und Meer.
Vom Holzsiel zum Stahlbetonbau hat sich vieles verändert, doch das Prinzip blieb gleich:
Das Wasser muss raus, wenn es kann – und draußen bleiben, wenn es will.
Wenn du also das nächste Mal am Deich stehst, bleib kurz stehen, wenn du das leise Klacken der Klappen hörst. Dieses Geräusch begleitet die Wurster seit mehr als 700 Jahren – und es wird wohl noch lange weiterklingen.
Was du heute vor Ort entdecken kannst
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Museum Land Wursten (Dorum): Ausstellung zur Geschichte der Entwässerung
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Nationalpark-Haus Dorum-Neufeld: Modelle, Filme und Pumpentechnik
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Alter Sielzug Wremen: denkmalgeschütztes Bauwerk, gut zugänglich
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Schöpfwerk Cappel-Neufeld: restaurierte Maschinen, Startpunkt für Wattführungen
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Lehrpfad „Deich & Siel“ zwischen Wremen und Dorum
Quellen
[1] Küstenschutz und Wasserwirtschaft in Niedersachsen. NLWKN (2024).
https://www.nlwkn.niedersachsen.de
[2] Museum Land Wursten – Geschichte der Entwässerung und des Deichbaus. Dorum (2023).
https://www.land-wursten.de/museum
[3] Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer – Historische Sielanlagen im Küstenraum. Informationsbroschüre (2022).
https://www.nationalpark-wattenmeer.de













