Des Küsters Kuh – Als die Weser noch schmal war
Es war zu jener fernen Zeit, da die Weser noch nicht der breite, majestätische Strom war, den wir heute kennen. Ihr Lauf war schmal und unruhig, ein silberner Faden zwischen grünen Marschwiesen, der sich in vielen Windungen zum Meer schlängelte. Links und rechts drängten sich die Ufer eng zusammen, so sehr, dass man an manchen Stellen mit einem kräftigen Sprung oder einem schmalen Steg von einem Land zum anderen gelangen konnte.
Damals, so erzählt man, reichte das Kirchspiel Waddens im Butjadinger Land bis dicht an das Wurster Gebiet heran. Zwischen beiden Seiten, dort wo heute Wasser fließt, spannte sich einst eine einfache Brücke aus Holz – kaum mehr als ein schwankender Steg, von Sturm und Salz gezeichnet, aber fest genug für einen mutigen Fußgänger oder einen Wagen mit leichtem Rad.
Jenseits des Wassers, auf der rechten Seite der Weser, lagen die Dörfer Rintzel, Reimnitzel und Lebstedt – Orte, die längst verschwunden sind, verschlungen vom Fluss, dessen Bett sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter ausdehnte.
Zur selben Zeit lebte in Imsum ein Küster, ein schlichter, aber kluger Mann, dem die Leute wohlgesinnt waren. Sein Hof lag nahe bei der Kirche, und er hielt sich, wie es damals üblich war, ein paar Kühe, die ihm Milch und Butter gaben. Doch das Land um Imsum war schwer und feucht, und die Weiden litten oft unter dem salzigen Wind.
Eines Abends, als er am Deich stand und über den Fluss blickte, sah er auf der anderen Seite weite grüne Wiesen im goldenen Abendlicht liegen – saftig, dicht, von einer Güte, wie er sie noch nie gesehen hatte. „Das ist das Land, das Gott selbst den Kühen gegeben hat“, soll er gesagt haben, halb im Scherz, halb im Staunen.
Am nächsten Morgen führte er seine beste Kuh zum Steg. Das Tier war ruhig, folgte ihm treu, und als sie die andere Seite erreichten, senkte es den Kopf ins Gras und begann zu fressen, als habe es auf diesen Augenblick gewartet. Von da an wurde das seine tägliche Gewohnheit: Früh am Morgen trieb der Küster die Kuh über den Steg, und am Abend, wenn die Sonne über der Marsch versank, holte er sie zurück, melkte sie und dankte leise für den guten Ertrag.
Manchmal sah man ihn schon in der Dämmerung, den Melkeimer in der Hand, den Rock im Wind flatternd, wie er über die schmale Brücke ging – ein vertrautes Bild für alle, die am Fluss wohnten.
Doch die Jahre vergingen, und die Weser begann sich zu verändern. Das Wasser drängte stärker, riss Erde mit sich, dehnte das Bett aus. Eines Frühjahrs, nach einem langen Winter mit hohen Fluten, war der Steg verschwunden. Nur noch Trümmer trieben auf dem Wasser, und das Gras auf der gegenüberliegenden Seite war für immer verloren.
„Der Küster war der Letzte, der den Fluss zu Fuß überqueren konnte“, sagten die Alten später. Und wenn sie von ihm erzählten, dann klang es mit einem Schmunzeln, aber auch mit Wehmut – denn er hatte erkannt, was andere zu spät sahen: dass das gute Land jenseits der Weser nicht ewig erreichbar sein würde.
Heute ist vom alten Steg nichts mehr zu sehen, und die Dörfer jenseits des Flusses sind im Strom versunken. Doch manchmal, wenn der Wind stillsteht und das Abendlicht auf dem Wasser tanzt, sagen die Dorfbewohner, man könne eine Gestalt erkennen – einen Mann mit einem Eimer, der über den Fluss schreitet, als sei der Steg nie verschwunden. Und wer ganz genau hinhört, meint vielleicht das leise Muhen einer Kuh zu vernehmen, von der anderen Seite herübergetragen.







