Aus Lebstedts letzten Tagen – Der Fluch des Übermuts
Wenn man heute an stillen Tagen am Außendeich zwischen Schottwarden und Dingen steht, wo das Land flach und weit ist und der Wind über die Salzwiesen streicht, dann erzählt man sich, dass dort einst ein Dorf lag – Lebstedt. Es war, so sagen die Alten, ein Ort von solcher Schönheit und Fülle, dass selbst die Sonne hier heller schien.
Die Bauern von Lebstedt lebten auf breiten Höfen, umstanden von hohen Eschen, die im Sommer Schatten spendeten. Ihre Dächer waren weit und schwer, gedeckt mit goldenem Reet, und die Luft war erfüllt vom Duft der Felder – von Korn, Klee und Raps, der bis zum Horizont leuchtete. Wenn der Wind über die Marsch zog, wogte das Getreide wie ein Meer aus Gold.
Das Land war fruchtbar, die Ernten reich, und das Glück schien den Lebstedtern hold. Die Scheunen waren gefüllt bis unter die Balken, und in den Truhen funkelten Silbermünzen und Goldgulden. Die Frauen trugen feine Linnen, Samt und Seide, und ihre Stuben waren sauber und hell. Andere Dörfer kämpften mit Sturm und Missernte – doch in Lebstedt war immer Sommer.
Aber die Fülle machte die Menschen stolz. Dankbarkeit wich Übermut, und aus Stolz wurde Spott. Die Lebstedter prahlten mit ihrem Reichtum, hielten sich für gesegnet über alle anderen. „Der Herr liebt uns mehr als die andern“, sagten sie, und lachten, wenn die Nachbarn über die Missgunst des Himmels klagten.
Eines Tages beschlossen sie, dass es nicht mehr genüge, ihre Stuben mit Sand auszustreuen, wie es in der Marsch üblich war. „Sand ist für die Armen“, spottete ein Bauer. „Wir nehmen Mehl – das Beste, das wir haben.“ So schütteten sie Weizenmehl auf ihre Böden, so fein, dass es wie Schnee glänzte. Kinder zeichneten ihre Namen hinein, und die Frauen lachten, wenn der Staub in der Sonne glitzerte.
Doch die Nachbarn sahen es mit Entsetzen. „Ihr vergeudet das Brot der Armen!“, riefen sie. „Das wird nicht gut enden.“ Aber niemand hörte auf sie.
Nur eine Frau, eine Witwe mit einem kleinen Hof am Rande des Dorfes, blieb dem Übermut fern. Sie lebte bescheiden, betete jeden Abend und sprach oft, halb für sich: „Was Gott gibt, soll man nicht verachten, aber auch nicht verschleudern.“
Eines Abends, als der Wind still stand und das Herdfeuer langsam verglühte, trat sie in ihre Küche. Da sah sie, wie sich aus der Glut ein lebendiger Aal herauswand – schwarzglänzend, zischend, mit nassen Schuppen, die im Feuerschein glitzerten. Er schlängelte sich über die Ziegel, als suche er den Weg ins Freie. Die Frau erschrak. „Neem wull du denn noch hen so lot op’n Obend?“ rief sie, doch das Tier glitt stumm in den Schatten.
Lange saß sie danach am Tisch und dachte nach. Schließlich fasste sie einen Entschluss. „Das ist kein Zufall“, murmelte sie. „Der Herr sendet ein Zeichen.“ Sie packte ihre Habseligkeiten, wickelte sie in ein Tuch, schlang sich ein Wolltuch um die Schultern und machte sich in der Dunkelheit auf den Weg zur Kirche von Imsum.
Kaum hatte sie die Anhöhe erreicht, da begann der Wind zu toben. Er kam vom Meer, heulte über die Marsch, riss Reet von den Dächern und trieb das Wasser vor sich her. Binnen Minuten schwollen die Fluten, brachen über die Deiche und rasten in das Land. Blitze zuckten, Donner grollte, und das Meer verschlang, was ihm im Weg war.
Als der Morgen graute, lag dort, wo einst Lebstedt gestanden hatte, nur noch Wasser. Das Dorf war fort – Häuser, Felder, Menschen, alles. Nur das Rauschen der Wellen blieb.
Die Frau stand bei der Kirche, sah hinaus über die graue Weite und weinte. Hinter ihr ragte das Gotteshaus in den Sturm, vor ihr dehnte sich das Meer.
Heute erinnert kaum etwas an Lebstedt. Doch wer genau hinsieht, kann im Außendeichland bei Schottwarden noch die Reste eines alten Deiches erkennen, und Flurnamen wie „Lebstedter Viertel“ oder „Lebstedter Jück“ bewahren das Gedächtnis des untergegangenen Dorfes.
Und an manchen Abenden, wenn der Wind von Westen kommt und das Meer flüstert, sagen die Alten, könne man aus der Tiefe ein leises Rauschen hören – als würde jemand im Sand mahlen. Dann, so sagen sie, streut der Wind das Mehl der Lebstedter noch einmal über die Marsch – zur Mahnung und Erinnerung.







