Der Ochsenturm von Imsum – Kampf der Dörfer um die Kirche
Wenn man heute den stillen Pfad nach Imsum hinaufgeht, wo die Marsch an die Weser stößt und der Wind den Salzgeruch des Stromes heranträgt, steht dort ein alter Turm. Er ist einsam geworden, ein grauer Wächter über dem Land, doch wer ihm zuhört, der hört Geschichten flüstern – von Streit und List, von Glauben und Gemeinschaft. Die Alten nennen ihn den Ochsenturm, und seine Sage ist so alt wie das Land selbst.
Es war eine Zeit, da die Wurster Bauern nach vielen harten Jahren endlich in Frieden und Wohlstand lebten. Sie hatten dem Meer Land abgerungen, die Deiche hielten, und das Korn wuchs auf den Feldern. Da kam der Wunsch, Gott zu danken – und eine Kirche zu bauen, so wie man sie in den großen Kirchspielen schon kannte. Doch die kleinen Dörfer Dingen und Weddewarden waren arm. Keines hätte allein ein Gotteshaus errichten können. Also beschlossen sie, gemeinsam eines zu bauen – für beide Dörfer, als Zeichen ihrer Einigkeit.
Aber wie das so ist, wo zwei Dörfer sich zusammentun: bald kam die Frage auf, wo das Gotteshaus stehen solle. Die Weddewardener wollten es bei sich, „damit man’s nahe hat an Wind und Weg“. Die Dingener aber meinten, ihr Ort liege höher und sicherer vor dem Wasser. Und so stritt man, mal freundlich, mal mit hartem Wort. Wochenlang ging das hin und her, bis einer vorschlug, den Bischof um Rat zu bitten. Der aber, weise und wohl schon des Streites müde, sprach: „Lasst den Himmel selbst entscheiden. Tut, wie man es seit alter Zeit im Lande hält – mit einem Gottesurteil.“
Und so geschah es. Jedes Dorf sollte einen Ochsen stellen, kräftig und gesund. Beide Tiere würden in der Mitte zwischen den Orten zusammengebunden und laufen gelassen. Wo sie sich niederließen, dort sollte die Kirche gebaut werden.
Das gefiel allen – doch bald schon begann das Nachdenken. In Dingen sagte man: „Wenn unser Ochse stärker ist, zieht er den Weddewardener mit sich, und die Kirche steht bei uns.“ Also fütterte man das Tier mit bestem Hafer und süßem Klee. Auch in Weddewarden hatte man denselben Gedanken. Tag für Tag wurde der Ochse gepflegt und gestärkt, bis sein Fell glänzte und die Hörner wie blanke Klingen schimmerten.
Am Abend vor dem Gottesurteil ließen beide Dörfer ihre Tiere hungern. „Dann zieht er umso kräftiger heimwärts“, sagten sie. Früh am nächsten Morgen trafen sich alle zwischen den Dörfern. Der Wind wehte kühl vom Strom her, die Sonne lag blass über der Marsch, und das Taugras glänzte. Männer, Frauen und Kinder standen in einem großen Kreis.
Die beiden Ochsen wurden zusammengebunden – ein schweres, dickes Tau verband sie. Dann gab man ihnen den Weg frei. Erst schnupperten sie, dann senkten sie die Köpfe, und plötzlich begann das Ringen. Jeder zog mit aller Kraft nach seinem Dorf, schnaubte, stampfte, riss an dem Tau. Die Leute schrien und riefen, jeder ermunterte sein Tier, als ginge es um Leben und Ehre.
Doch die Tiere, verwirrt von dem Lärm, verließen bald die Richtung. Sie zogen kreuz und quer über die Marsch, bis sie schließlich, von der Anstrengung erschöpft, nahe der Weser niedersanken. Die Menge lief ihnen nach. Da, wo sie lagen, weideten sie ruhig, und niemand wusste mehr, welches Tier das andere geführt hatte.
„Hier also“, sagte der älteste Mann, „hier ist ihr Ort. Hier soll die Kirche stehen.“ Und so geschah es. Doch der Platz war sumpfig, feucht vom nahen Strom, und beim Bau versank manches Holz im Morast. Deshalb nannte man das neue Kirchspiel später „Im Sumpf“ – oder kurz: Imsum.
Später erzählten manche, der Name stamme von einer reichen Jungfrau namens Imme, die dort einst gelebt und der Kirche ihr Vermögen vermacht habe. Andere sagten, westlich habe es ein Dorf namens Lebstedt gegeben, und die Kirche sei deshalb mitten zwischen allen drei Dörfern erbaut worden.
Wie auch immer – die Kirche stand viele Jahrhunderte. Heute ist sie verschwunden, und nur der Turm blieb. Er steht auf seiner kleinen Warft wie ein stiller Zeuge. Wenn du hinaufsteigst und über den Deich blickst, siehst du den breiten Strom, der im Sonnenlicht glitzert, und die weite Marsch, die sich bis zum Horizont zieht. Dann scheint es, als könnte man sie noch hören – die Rufe der beiden Dörfer, das Schnauben der Ochsen, das Ringen um Glauben und Heimat. Und der Wind trägt ihre Geschichte weiter, leise, über Land und Zeit hinweg.







