Vom Bau des Wurster Seedeichs – Kampf gegen das Meer
Wenn man heute auf dem Deich steht und den Blick über das flache Land schweifen lässt – über die grünen Weiden, die Gräben, das Spiel von Licht und Wind über dem Wasser – dann ahnt man kaum, welch schwere Arbeit in diesem Wall steckt. Er wirkt so selbstverständlich, als sei er schon immer da gewesen. Doch die Alten erzählen, dass es eine Zeit gab, da war das Land schutzlos, und der blanke Hans kam, wann immer er wollte.
Damals, vor vielen Jahrhunderten, lebten die Wurster Bauern auf Warften, kleinen Erdhügeln, die sie mit Schweiß und Spaten aus der Marsch geformt hatten. Wenn Sturmflut kam, zogen sie sich auf ihre Wurten zurück und sahen zu, wie das Meer ringsum wütete. Es war ein banges Warten, Nacht für Nacht, während der Wind an den Türen rüttelte und das Vieh unruhig schnaubte. Oft, wenn die Flut sich zurückzog, fanden sie Zäune fortgerissen, Felder versalzen, und manchmal fehlte ein Nachbarhaus.
So lebten sie viele Generationen, und doch blieb die Frage: Wie lange noch? Als die Fluten immer höher stiegen und ganze Kirchspiele vom Wasser verwüstet wurden, begannen die Bauern miteinander zu reden. Im Haus eines Ältermannes bei Dorum – so heißt es – versammelten sich die Vertreter der Kirchspiele von Wremen, Misselwarden, Mulsum, Cappel und anderen Orten. Das Feuer knisterte im Herd, draußen heulte der Wind, und die Männer sahen einander an.
„Wir können nicht länger zusehen“, sagte einer. „Jeder baut seinen Deich, doch keiner hält stand.“
„Der Wind spielt mit uns“, murmelte ein anderer, „und das Meer lacht über unsere Mühen.“
Da erhob sich der Ältermann und sprach: „Dann lasst uns einen Deich bauen, der für alle steht – einen, der das Land schützt, nicht nur das eigene Feld. Einen Seedeich, der uns alle verbindet.“
Ein schweres Schweigen folgte. Sie wussten, was das bedeutete: Jahre voller Arbeit, Gefahr, Verlust. Ein einziger Sturm konnte alles zunichtemachen. Doch der Entschluss war gefasst.
Und so begannen sie. Männer, Frauen, Kinder – alle halfen. Sie gruben den Boden, schleppten Torf und Klei in Körben, schichteten Erde, Holz und Reisig, Tag für Tag, Jahr um Jahr. Wenn das Wasser kam, standen sie Schulter an Schulter und besserten aus, was der Wind fortgerissen hatte. Ihre Hände waren rissig, ihre Gesichter vom Wind gegerbt, aber ihre Herzen waren stark.
Da, so erzählt man, geschah etwas, das viele für ein Zeichen hielten: Der Wind stand sieben Jahre lang aus Osten. Kein Sturm drückte das Meer gegen das Land. Kein Westwind brach über die Deiche herein. Die Sonne trocknete den Klei, das Gras wuchs, und die Arbeit gedieh.
„Der Himmel hält die Hand über uns“, sagten die Leute. „Der Herrgott will, dass wir das Werk vollenden.“
Und sie taten es. Sieben Jahre währte die Mühe, bis der Deich endlich stand – mächtig, fest, ein Band zwischen Land und Meer. Als der letzte Spatenstich getan war, drehte der Wind. Wieder kam der West, wie er seit Menschengedenken gekommen war, und die Wogen schlugen hoch gegen das Land. Doch diesmal hielt der Deich stand. Kein Wasser brach mehr durch, kein Hof ging verloren.
Von da an konnten die Wurster ruhiger schlafen. Sie wussten, dass ihre Arbeit nicht vergebens war – und dass sie, vereint, stärker gewesen waren als das Meer. Noch heute, wenn man auf dem Deich steht und den Wind im Gesicht spürt, scheint es, als flüstere er von jener Zeit, da Mut und Gemeinschaft das Land schützten.







