Recht und Fehde im Land Wursten – wie eine Bauernrepublik Ordnung hielt
Wenn du heute durch Wremen oder Misselwarden gehst, riechst du Salz in der Luft und hörst die Möwen. Kaum etwas verrät, dass hier einmal Recht und Fehde den Alltag prägten – nicht aus einem Schloss heraus, sondern auf freiem Feld. Auf dem Sieverdyshamm, unweit des Deichs, versammelten sich die Wurster unter freiem Himmel. Sie berieten, stritten, schlossen Frieden – und hielten ihre Gemeinschaft zusammen. Diese Geschichte erzählt, wie Recht und Fehde im Land Wursten funktionierten: wer entschied, wer stritt, und warum daraus ein erstaunlich modernes Freiheitsverständnis wuchs.
Was „Friesische Freiheit“ im Alltag bedeutete
Die Wurster verstanden sich als Teil der friesischen Seelande. Dahinter steckt keine Romantik, sondern ein nüchterner Grundsatz: kein Herr außer Gott. Das heißt: keine Grafen, keine Bischöfe, keine fremden Beamten. Recht entstand aus der Gemeinschaft – aus Arbeit am Deich, aus gegenseitiger Hilfe, aus der Einsicht, dass man in der Marsch nur gemeinsam bestehen kann. Vertreter freier Landesgemeinden trafen sich seit dem Mittelalter am Upstalsboom nahe Aurich; dort wurde beraten, was Freiheit heißt und wie man sie verteidigt. Diese politische Kultur wirkt bis an die Wurster Küste. museum-aurich.de+1
Im Alltag bedeutete das: Jeder freie Bauer war Bürger, Wehrmann und Richter. Wer hier Land besaß, trug Verantwortung – für Deiche, für Ordnung, für Frieden. Recht und Fehde standen nicht gegeneinander; sie waren zwei Seiten derselben Selbstverwaltung: erst reden, dann urteilen, notfalls kämpfen – aber am Ende wieder befrieden. Wikipedia

Der Thing: Gericht unter freiem Himmel
Das Herz dieser Ordnung schlug auf dem Thing – der Landesversammlung. In Wursten trafen sich die Kirchspiele auf dem Sieverdyshamm bei Misselwarden. Der Platz war schlicht: erhöhter Marschboden, Steine, vielleicht eine Bank. Wichtig war, dass Recht öffentlich gesprochen wurde. Urteile sollten getragen sein von Dorf und Nachbarschaft, nicht von Standesprivilegien. land-wursten.de
Geleitet wurde das Land von sechzehn Ratgebern, erfahrenen Bauern, die Recht sprachen, Abgaben regelten und über Deich- und Sielbau entschieden. In Archivalien tauchen sie als Akteure auf – bis hin zu diplomatischen Schreiben an den Rat der Stadt Bremen. Das zeigt, wie handlungsfähig diese Bauernrepublik war. Deutsche Digitale Bibliothek

Die „Wurster Willkür“ (1508): Gewohnheit wird Gesetz
1508 gossen die Wurster ihr Gewohnheitsrecht in ein schriftliches Landrecht – die Wurster Willkür. Das war keine Gnade eines Fürsten, sondern ein Beschluss der Landesgemeinde. Geregelt wurden Zuständigkeiten, Eigentum, Erb- und Eherecht – und der Umgang mit Streit und Gewalt. Mit dieser Kodifizierung bekam Recht und Fehde einen klaren Rahmen: Vorrang für Schlichtung und Wiedergutmachung; Zwangsmittel nur, wenn alles andere scheitert. Später folgte 1611 ein weiteres Landrecht. Beides gilt in der Forschung als eigenständige Rechtsbildung der Wurster. ediss.sub.uni-hamburg.de
Wenn du am Twernendamm oder an der Wehlsbrücke stehst, bist du nah an diesen Anfängen. Tafeln erinnern daran, dass hier Recht verlesen und beschlossen wurde – und dass 1518 ein blutiger Vorfall („Thingtat“) die Spannungen mit dem Erzbischof von Bremen zuspitzte. land-wursten.de

Wie Verfahren liefen: öffentlich, verbindlich, kontrolliert
Verhandelt wurde öffentlich. Oft auf Kirchhöfen oder freiem Feld. Zeugen wurden gehört, Schöffen berieten, die Ratgeber fällten Urteile. Öffentlichkeit war Kontrolle: Wer Recht spricht, soll es vor den Augen der Nachbarn tun. Recht und Fehde blieben so eingebettet in dörfliche Ehre und Ruf. Ein hartes Urteil war nicht der Tod, sondern der Ausschluss – niemand leiht dir mehr Vieh, niemand heiratet in dein Haus. Das traf.
Schadensersatz vor Strafe. Typisch friesisch ist das Gewicht der Sühne: zahlen, ersetzen, sich entschuldigen. Erst wer sich der Ordnung entzog, riskierte Verbannung oder – in schweren Fällen – die Niederlegung des Hauses („Hußstoot“). So blieb der soziale Frieden wichtiger als reine Vergeltung. (Zum Hintergrund der friesischen Rechtskultur siehe die Literatur zu den Seelanden und der Friesischen Freiheit.) Wikipedia+1
Fehde: erlaubte Selbsthilfe – mit Regeln
Das Mittelalter war rau. Wo Urteile nicht wirkten oder Ehre verletzt wurde, blieb als letztes Mittel die Fehde – ein regelgebundenes Recht der Selbsthilfe. Ohne Ankündigung (Fehdebrief) galt jeder Schlag als Unrecht. Erst mit formaler Absage durften Waffen sprechen. Auch in Wursten kannte man dieses Instrument. Es wurde genutzt, wenn Außenstehende Druck machten – oder wenn interne Konflikte festgefahren waren. Recht und Fehde gehörten zusammen: Die Fehde war kein Chaos, sondern eingebunden in Normen und Rückkehr zum Frieden. (Regionale Beispiele sind in Chroniken und Lokalüberlieferungen greifbar.) wremer-chronik.de
Nachbarn als Gegner: Bederkesa, Lauenburger, Erzbischof
Im 14. und 15. Jahrhundert geriet Wursten immer wieder in Konflikt mit seinen Nachbarn. Adelige von Bederkesa und später Herzöge von Sachsen-Lauenburg versuchten, Abgaben und Gehorsam durchzusetzen. Die Wurster wehrten sich – teils mit Gerichtsverfahren, teils mit Waffengewalt. In der Erinnerung blieb das Bild der Marschbauern mit Spießen gegen gepanzerte Ritter. Für die Wurster war das keine Rebellion, sondern Recht mit der Waffe: Verteidigung der eigenen Ordnung gegen Eingriffe von außen. (Zur Rolle Bederkesas und der Geest siehe regionale Studien und topografische Darstellungen.) Dr. Fichtners Studienblätter+1
Der Konflikt kulminierte im frühen 16. Jahrhundert: Unter Erzbischof Christoph von Braunschweig wuchs der Druck des Erzstifts Bremen. Am Kirchhof von Mulsum kam es 1524 zur Schlacht – die Wurster unterlagen, das Land wurde geplündert, die Selbstverwaltung brach. Recht und Fehde hatten an ihre Grenzen gestoßen, als eine überlegene Territorialmacht Ernst machte. Wikipedia+1
Kirche, Gewissen, Gemeinsinn
Formell gehörte Wursten zum Erzstift Bremen, praktisch regelten die Dörfer vieles selbst. Pfarrer waren Teil der Dorfgemeinschaft: Sie schrieben, sie bezeugten, sie mahnten – aber sie regierten nicht. Mit der Reformation verschob sich das Nachdenken über Schuld und Sühne; dennoch blieb im Alltag die Frage maßgeblich: „Was hilft dem Dorf?“ Recht und Fehde wurden daran gemessen, ob sie das Zusammenleben stärkten. Wikipedia
Strafen, Ehre, öffentlicher Ruf
In einer kleinen Gesellschaft zählt Ehre. Wer unehrlich war, verlor Kredit, Nachbarschaft und Zukunft seiner Kinder. Typische Sanktionen waren Geldbußen, öffentliche Entschuldigungen, zeitweilige Ausschlüsse von Markt oder Deichdienst – und in schweren Fällen Verbannung. Das klingt mild, war aber existenziell: Jenseits des Deichs fehlte Schutz, Arbeit, Netz. Recht und Fehde zielten deshalb auf Rückkehr in den Frieden – und nicht auf die Vernichtung des Gegners. (Die Willkür von 1508 greift solche Logiken auf.) ediss.sub.uni-hamburg.de
Frieden halten: die Kunst des Kompromisses
Nach jedem Streit stand die Sühne. Pastoren, Nachbarn, angesehene Bauern vermittelten. Der Thing war Gericht – aber auch Schlichtungsforum. Das erklärt, warum Wursten trotz Sturmfluten, Kriegen und äußeren Ansprüchen über Jahrhunderte stabil blieb. Recht und Fehde waren Werkzeuge, aber das Ziel hieß Frieden, damit der Deichdienst klappt und die Saat aufgeht. Wikipedia
1524/1525: Ende der Selbstverwaltung – Beginn der Fremdherrschaft
Nach der Schlacht von Mulsum (1524) und dem Frieden von Stade (1525) übernahm das Erzstift faktisch die Gerichtsbarkeit. An die Stelle der sechzehn Ratgeber traten Vögte und bremische Amtsträger. Doch Gewohnheiten sterben langsam: Noch im 17. Jahrhundert regelten Dörfer vieles „nach altem Brauch“. Der Satz, den du noch heute ab und an hörst – „Wat wi sülvst maken, hällt länger“ – stammt aus jener Haltung. Recht und Fehde verschwanden nicht über Nacht; sie wurden eingehegt, formalisiert, in landesherrliche Bahnen gelenkt. Wikipedia+1
Spuren im Gelände – Orte, an denen du es heute siehst
Sieverdyshamm / Wehlsbrücke (Misselwarden): Erinnerungsort des Things; Tafeln erläutern Willkür (1508) und die Konflikte kurz vor 1524.
Kirchhöfe in Wremen, Dorum, Mulsum: Hier wurde öffentlich beraten, verhandelt, verziehen. In Mulsum stand 1524 die Entscheidungsschlacht.
Archive & Museen: In Dorum, Bremerhaven und Cuxhaven findest du Urkundenabschriften, Siegelabdrücke und regionale Chroniken; in Digitalportalen sind Schreiben der 16 Ratgeber greifbar. Recht und Fehde werden dort anschaulich. land-wursten.de+2Wikipedia+2
FAQ – kurz erklärt
Was ist die „Wurster Willkür“?
Ein 1508 schriftlich fixiertes Landrecht der Wurster – Grundlage der Selbstverwaltung. Es bündelt Regeln zu Eigentum, Erbe, Verfahren und Sühne. ediss.sub.uni-hamburg.de
Was bedeutet „Fehde“ hier?
Regelgebundene Selbsthilfe als letztes Mittel: mit Ankündigung, begrenzt, rückführbar in Frieden. Recht und Fehde waren verzahnt. (Chroniken und Lokalquellen berichten von Fehden gegen Nachbarn.) wremer-chronik.de
Wo tagte das Gericht?
Auf dem Sieverdyshamm bei Misselwarden, unter freiem Himmel – öffentlich, kontrolliert durch die Gemeinde. land-wursten.de
Wie endete die Autonomie?
Mit der Niederlage auf dem Mulsumer Kirchhof (1524) und der Unterstellung unter bremische Herrschaft (1525). Wikipedia
Gab es Verbindungen zu anderen Friesen?
Ja. Die Wurster waren Teil des kulturellen Raums der Friesischen Freiheit; der Upstalsboom steht symbolisch für diese Ordnung. museum-aurich.de+1
Recht und Fehde – zwei Werkzeuge, ein Ziel
Hinterm Deich hat man gelernt, Recht und Fehde als Werkzeuge zu verstehen – nicht als Gegensätze. Erst das Wort, dann das Urteil, notfalls das Schwert – und am Ende die Sühne. Diese Ordnung war nicht perfekt. Aber sie war selbst gemacht. Sie hielt das Land zusammen, solange Nachbarschaft, Deichdienst und Ehre trugen.
Wenn du heute auf dem Deich stehst und den Wind spürst, stell dir vor, wie hier vor 500 Jahren Männer und Frauen berieten, stritten – und versuchten, gerecht zu sein. Ein Stück davon klingt bis heute nach.
Was du heute vor Ort entdecken kannst
Sieverdyshamm / Wehlsbrücke: Infotafeln zur Willkür (1508) und zur Thingtat (1518).
Mulsumer Kirchhof: Ort der Niederlage von 1524 – Wendepunkt der Wurster Freiheit.
Archive online: Schreiben der 16 Ratgeber, Karten, Urkunden – digital zugänglich.
Museen & Vereine: Führungen, Vorträge, Ausstellungen zur Rechtsgeschichte der Marsch. land-wursten.de+2Wikipedia+2
Quellen & Literatur (Auswahl)
[1] Uni Hamburg (Diss.). Rechtssatzungen des Landes Wursten – Wurster Willkür (1508) und Landrecht (1611). (PDF-Abstract), Zugriff 15.10.2025. ediss.sub.uni-hamburg.de
[2] Wikipedia. Land Wursten (Überblick zur Landschaft und politischen Ordnung), Zugriff 15.10.2025. Wikipedia
[3] Museum Aurich. Der Upstalsboom – Die Friesische Freiheit (Hintergrund zur Landesgemeinde), Zugriff 15.10.2025. museum-aurich.de
[4] Ostfriesische Landschaft / Kulturagentur. Friesische Freiheit – Upstalsboom (Faltblatt), Zugriff 15.10.2025. Kulturagentur
[5] Wikipedia. Mulsum (Wurster Nordseeküste) (Schlacht 1524), Zugriff 15.10.2025. Wikipedia
[6] Wremer Chronik. Mulsum (Chronikauszug zu Christoph von Braunschweig und 1524), Zugriff 15.10.2025. wremer-chronik.de
[7] Deutsche Digitale Bibliothek. Die 16 Ratgeber des Landes Wursten schreiben an den Rat zu Bremen (Beleg für politische Handlungsfähigkeit), Zugriff 15.10.2025. Deutsche Digitale Bibliothek
[8] Land-Wursten.de. Sieverdyshamm / Wehlsbrücke – Thingstätte (Ortskontext, Erinnerungsort), Zugriff 15.10.2025. land-wursten.de













