Sage, Kritik und Denkmal Rechtenfleth
Wenn du auf dem Deich bei Rechtenfleth stehst, blickst du weit über die Weser – und auf ein Denkmal, das eine uralte Geschichte erzählt: Karl der Große und die Freiheit der Friesen.
Die Sage will wissen, der Kaiser selbst habe den Friesen ihre Selbstverwaltung geschenkt. Heute steht sie sinnbildlich für ein ganzes Weltbild: das Ideal eines freien Volkes zwischen Meer und Marsch.
Doch wie viel Wahrheit steckt in dieser Erzählung? Und warum erinnert man ausgerechnet hier, am Rand des Land Wursten, an sie?
Die Sage: Karl und die Friesen
In der volkstümlichen Überlieferung heißt es:
Als Karl der Große das Land zwischen Weser und Ems befriedete, habe er den Friesen besondere Rechte verliehen – als Dank für ihre Treue oder ihren Widerstand, je nach Fassung.
Er soll ihnen ein „goldenes Schwert“ oder eine „freie Fahne“ überreicht haben – Zeichen, dass sie nur dem Kaiser unterstanden, keinem Herzog oder Grafen.
Diese „Friesenfreiheit“ wurde später zum Gründungsmythos der norddeutschen Marschlande: Auch die Bewohner des Land Wursten beriefen sich auf sie, als sie im Mittelalter ihre Unabhängigkeit gegen das Erzstift Bremen verteidigten. [1]
Die Idee war stärker als das Dokument: Freiheit als Erbe, nicht als Privileg.

Historische Einordnung – zwischen Chronik und Konstruktion
Die Sage findet sich ab dem 12. Jahrhundert in verschiedenen Chroniken. Historisch belegt ist eine kaiserliche Freiheitsverleihung allerdings nicht.
Tatsächlich war Karl der Große (†814) in Friesland vor allem als Eroberer tätig: Nach dem Aufstand des Friesenherzogs Radbod sicherte er das Gebiet militärisch und kirchlich.
Die Vorstellung, der Kaiser habe den Friesen „Freiheit geschenkt“, ist rückprojiziert – ein Versuch, lokale Selbstbestimmung späterer Jahrhunderte auf eine ehrwürdige Wurzel zu gründen. [2]
Im Mittelalter entstanden daraus „Freiheitsbriefe“, teils gefälscht, teils symbolisch, um Rechte zu legitimieren.
Begriff erklärt: Friesenfreiheit
Die Friesenfreiheit war kein einzelner Erlass, sondern ein Rechtsbegriff.
Er bedeutete: Die freien Bauern in den norddeutschen Marschen unterstanden direkt dem Kaiser – ohne Zwischenherrn.
Diese Vorstellung prägte das politische Denken bis ins Spätmittelalter, besonders in den Regionen Ostfriesland, Butjadingen, Dithmarschen und eben im Land Wursten. [2]

Erinnerung in Stein – das Denkmal von Rechtenfleth
Am südlichen Rand des historischen Wursten, auf der linken Weserseite bei Rechtenfleth, steht ein Denkmal aus den 1920er Jahren:
Ein massiver Granitblock, bekrönt von einem Adlerrelief und der Inschrift:
„Karl der Große – Verkünder der Freiheit“.
Erbaut wurde es als Teil einer Bewegung, die die Friesenfreiheit nationalromantisch deutete – als Zeichen germanischer Unabhängigkeit und Volkskraft. [3]
Rechtenfleth galt in lokalen Chroniken als Ort, an dem Karl einst das Heer versammelt habe, um die Nordseegebiete zu befrieden.
Heute dient das Denkmal als lokales Mahnmal für Identität und Erinnerung – ein Ort, an dem sich Geschichtsbewusstsein und Mythos begegnen.

🧭 Orte besuchen
Rechtenfleth – Karl-der-Große-Denkmal
Granitblock mit Adlerrelief und Inschrift zur Friesenfreiheit. Blick über die Wesermarsch; Rastplatz mit Informationstafel.
Lage: Auf dem Deich nördlich Rechtenfleth, Gemeinde Sandstedt (Landkreis Cuxhaven).
Dorum – St.-Urbanus-Kirche
Kirche auf der historischen Dorfwurt, Ort der alten Wurster Landgerichte – Symbol der realen Freiheitsausübung.
Wremen – Heimatmuseum
Ausstellung zur „Wurster Freiheit“ und zur Symbolik von Adler und Karlssage.
📍 Google-Maps-Hinweis: In der Sammlung der Redaktion Land Wursten sind alle Freiheitsdenkmäler und Thingstätten verzeichnet.
📸 Aktuelle Fotos & Wegbeschreibungen:
Sehenswürdigkeiten des Land Wursten
Von der Sage zur politischen Idee
Der Freiheitsmythos wirkte weit über die Region hinaus.
Im 15. Jahrhundert beriefen sich Wurster und Dithmarscher Bauern auf die „alten Rechte der Friesen“.
Im 19. Jahrhundert griffen Heimatvereine und Historiker die Figur Karls des Großen wieder auf – als „Urheber der Freiheit des Nordens“.
So wurde der Kaiser, der einst unterwarf, zum Symbol der Selbstbestimmung.
Das war weniger Geschichtstreue als Selbstdeutung – Ausdruck eines kulturellen Selbstbewusstseins, das im 20. Jahrhundert bis in Schulbücher, Wappen und Feiern reichte. [2][3]
Was heute sichtbar ist
- Infotafel am Denkmal erklärt die Entstehungsgeschichte und weist auf die Mythenbildung hin.
- In Heimatvereinen lebt die Freiheitsidee fort – etwa bei Festen, Umzügen und Ortschroniken.
- Das Thema Karl und die Friesenfreiheit wird in der Regionalpädagogik genutzt, um Geschichte als Erzählung über Werte zu vermitteln.
- Neue Forschungen rücken die Legendenkritik in den Mittelpunkt: Karl als Symbol, nicht als Stifter. [1][2]
Forschung & Kritik
Historisch betrachtet, widerspricht die Karl-Sage den Quellen:
- Karl zerschlug lokale Herrschaften und installierte Grafen.
- Erst Jahrhunderte später berief man sich auf ihn als „Freiheitsgeber“.
- Die „Friesenfreiheit“ war eine Rechtsform, die ohne königlichen Akt gewachsen war – Ausdruck regionaler Autonomie, nicht kaiserlicher Gnade.
Die Legende erfüllte aber eine wichtige Funktion: Sie verankerte Selbstbestimmung in einem gemeinsamen Ursprung – ein Narrativ, das in Krisenzeiten Identität stiftete.
So bleibt Karl der Große ein Projektionsbild:
Herrscher, Heiliger, Freiheitsstifter – je nachdem, was man sucht.
Begriff erklärt: Denkmalpflege
Denkmalpflege bezeichnet den bewussten Erhalt von Bauwerken, die als kulturelles Gedächtnis gelten.
Beim Denkmal in Rechtenfleth geht es heute nicht nur um Stein, sondern um Erzählung:
Wie wollen wir uns erinnern – und was davon als „Fakt“ gelten darf?
Quellenlage & Unsicherheiten
Die Sage selbst ist nicht urkundlich belegt, aber schriftlich tradiert:
Sie erscheint in der Annales Laurissenses (9. Jh.) in anderer Form, wird im Liber Census Daniae (13. Jh.) erwähnt und in friesischen Chroniken des Spätmittelalters ausgeschmückt.
Forschungen des Niedersächsischen Landesarchivs und des Friesischen Museums zeigen, dass der Freiheitsbegriff erst nachträglich politisiert wurde. [1][2][3]
Fazit der Forschung: Karl ist Legende – die Freiheit war echt.
Was Du hier lernen konntest:
- Karl der Große steht im Norden weniger für Eroberung als für das Ideal gerechter Ordnung.
- Die Freiheit der Friesen ist keine kaiserliche Gabe, sondern eine historische Selbstleistung.
- Das Denkmal Rechtenfleth erinnert an die Macht der Mythen – und mahnt zur kritischen Erinnerung.
- Zwischen Sage, Stein und Wissenschaft zeigt sich: Geschichte lebt im Erzählen.
- Wer am Deich steht, blickt nicht nur auf die Weser – sondern auf ein Stück Identität.
Quellen
[1] Niedersächsisches Landesarchiv (Aurich): „Friesenfreiheit – Mythos und Recht“ (2022). Ausstellung & digitale Edition zu Freiheitsbriefen und Legenden. Abgerufen am: 05.10.2025.
https://nla.niedersachsen.de/startseite/landesgeschichte/friesenfreiheit-mythos-und-recht
[2] Universität Oldenburg – Institut für Geschichtswissenschaft: „Die friesische Freiheit – zwischen Recht und Erinnerung“ (2021). Online-Artikel von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Vogt. Abgerufen am: 05.10.2025.
https://uol.de/geschichte/friesenfreiheit
[3] Friesisches Museum Bremerhaven: „Karl der Große und die Friesen“ (Dauerausstellung, o. J.). Hintergrund zur Sagenbildung und Rechtenflether Denkmal. Abgerufen am: 05.10.2025.
https://www.historisches-museum-bremerhaven.de/karl-der-grosse-und-die-friesen
(Transparenz: [1] amtlich, [2] wissenschaftlich, [3] museal.)













