Der Misselwardener Glockenguss – Der Klang der Schuld
Wer heute südlich von Misselwarden an der alten Hofstelle vorbeikommt, die im Dorf nur „die Kapelle“ genannt wird, ahnt kaum, welch schwere und zugleich wundersame Geschichte sich dort einst zutrug. Zwischen feuchter Marsch und sanfter Geest, wo der Wind beständig über die Felder zieht und Möwen über die Gräben kreisen, soll im Jahr 1459 die größte und schönste Glocke weit und breit gegossen worden sein – die „Gloriosa“. Ihr Klang soll so mächtig gewesen sein, dass man ihn bis nach Cappel und Wremen hören konnte. Doch der Weg zu diesem Klang war von Schuld, Ehrgeiz und Unglück begleitet.
Der Glockengießer hieß Gerd Klinge, ein erfahrener Meister aus dem Norden, berühmt für seine Kunst. Die Misselwardener hatten ihn gebeten, eine Glocke zu schaffen, wie es im Land keine zweite gäbe – groß, rein im Ton und fest im Klang, ein Zeichen des Glaubens und des Stolzes der Gemeinde. Zweimal hatte er es versucht, und zweimal war das Werk missglückt. Zwar gelang der Guss, und die Glocken waren schön anzusehen, doch als sie im Turm hingen, erklang kein heller Jubelruf, sondern nur ein dumpfes, klagendes Wimmern.
Beim dritten Versuch schwor Klinge, dass diesmal alles gelingen sollte. Tagelang hatte er die Form geprüft, den Lehm verdichtet, den Mantel geglättet. Das Feuer im Ofen loderte, die Luft roch nach Rauch und Metall, und selbst die Dorfbewohner hielten den Atem an, als das flüssige Erz in die Form floss. Doch kaum war der Guss begonnen, wurde der Meister mitsamt seinem Gesellen abberufen – ein dringender Ruf aus dem Nachbardorf, hieß es. So blieb nur der Lehrbursche zurück, ein junger Bursche mit rußgeschwärztem Gesicht, dessen Herz voller Stolz und Ungeduld war.
„Hüte die Form, bis ich wiederkehre“, hatte Klinge ihm eingeschärft. „Lass kein Feuer verlöschen und rühr an nichts.“
Doch je länger die Nacht dauerte, desto lauter wurde die Versuchung. Das Grollen der Glut, das Knacken der Lehmwand – es war, als spräche die Form zu ihm. „Was, wenn der Meister sich irrt?“, dachte der Junge. „Was, wenn ich sie schöner machen könnte?“
Er nahm sein Werkzeug, schabte und glättete, vertiefte hier, strich dort. Dann, wie ein rechter Künstler, ritzte er zum Zeichen seines Werkes eine kleine Glocke in den Mantel – kaum sichtbar, doch doch da, ein heimliches Bekenntnis: Ich war dabei.
Am nächsten Morgen kehrte der Meister zurück. Ohne Argwohn prüfte er das Werk, nickte zufrieden und ließ den Guss vollenden. Die Glocke wurde aus der Grube gehoben, makellos in Form und Glanz. Die Gemeinde jubelte, und der Meister atmete auf. Am folgenden Tag sollte sie zum ersten Mal erklingen.
Der Platz vor der Kirche war voller Menschen, die Sonne stand tief, und der Wind trug das Salz der nahen See herüber. Der Küster zog das Seil – ein Ton erklang, voll und klar, wie ihn keiner je gehört hatte. Da aber rief jemand, der dicht am Gussplatz gestanden hatte: „Herr Klinge! Es ist ein Zeichen in der Glocke – eine kleine Glocke, eingeritzt in den Mantel!“
Der Meister fuhr herum, bleich vor Zorn. „Wer hat es gewagt, an mein Werk zu rühren?“ Seine Stimme hallte über den Platz. Der Lehrbube trat zitternd hervor, mit gesenktem Kopf, die Hände flehend erhoben. „Ich tat es nur, weil ich dachte… es wäre schöner so.“ Doch Klinge hörte nichts mehr. Wut und Stolz trieben ihn in den Wahnsinn. Er zog den Dolch und stieß zu. Der Junge sank lautlos zu Boden, und ein Schrei ging durch die Menge.
In diesem Augenblick ertönte die Glocke erneut – tief und bebend, mit einem Klang, der allen durch Mark und Bein ging. Und in diesem Ton glaubte man ein Wort zu hören: „Mörder!“
Der Meister taumelte zurück, das Messer noch in der Hand. Entsetzen packte ihn, er ließ alles fallen und floh. Man sah ihn nie wieder im Dorf. Nur ein paar Fischer erzählten später, sie hätten einen Mann über den Deich laufen sehen, in den Sturm hinein, bis ins Meer, das ihn schließlich verschlang.
Seit jener Zeit hängt die große Glocke, die „Gloriosa“, im Turm zu Misselwarden. Wenn sie schlägt, klingt ihr Ton tief und feierlich – und mancher meint, in ihm noch heute eine Stimme zu hören. Die einen sagen, sie ruft „Mörder, Mörder!“, andere schwören, sie rufe leise: „Armer Lehrbursch, armer Lehrbursch…“







